Fachaufsatz meiner Interpretation
November 2015
gekürzte Version Dezember
Der in diesem Jahr vom „Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren Baden-Württemberg“ veröffentlichte Aktionsplan soll versuchen die teilweise sehr abstrakten Wünsche der UN-Konventionen im realisierbare Handlungen umzusetzen. Dazu wurden 228 konkrete Maßnahmen definiert und viele „Ideen“ dargelegt.
Ich versuche darzustellen, wie ich den Ansatz der Landesregierung in diesem Kontext interpretiere. Einige der Maßnahmen kommentiere ich beispielhaft, wobei mein Schwerpunkt sicherlich auf den bautechnischen Aspekten der barrierefreien Gestaltung liegt.
Die grundlegende Verpflichtung zur Inklusion und Teilhabe aller, wurde bereits in Jahr 2009 mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention von der Bundesregierung eingegangen. In der Behindertenkonvention wird folgendermaßen definiert: „Inklusion ist dabei die durchgängige Haltung und das zentrale Handlungsprinzip. Ziel ist, dass Menschen mit und ohne Behinderungen von Anfang an gemeinsam in allen Lebensbereichen selbstbestimmt und zusammen leben.“
Im Grußwort zur vorliegenden Broschüre nennt Herr Ministerpräsident Winfried Kretschmann einen interessanten Zusammenhang des Wortes „(be-) hindern“, der mir sehr gut gefällt: „Ich meine, dass es bei der Inklusion neben dem Abbau von Barrieren und Hindernissen vor allem darum geht, unseren Blickwinkel zu verändern. Anstatt vermeintliche Defizite eines Menschen zu betrachten, müssen wir uns fragen, wo wir oder unsere Umwelt möglicherweise einen Mitmenschen an der vollen Entfaltung seines Potenzials hindern. Wir alle müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir Menschen mit Behinderungen eine selbstverständliche und gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen unserer Gesellschaft gewährleisten können.“
Es ist die klare Zusage, dass sich die Umwelt ändern muss, da sie im aktuellen Zustand zu viele be-„hindert“. Also, dass wir die Umwelt entsprechend umgestalten müssen, damit die Teilhabe aller gewährleistet ist. Dazu hat die Landesregierung Gesetze erlassen oder novelliert. Mit der Landesbauordnung (LBO-BW) und der Liste der technischen Baubestimmungen (LTB-BW) die baurechtlich größten Schritte, zumal damit die DIN-Normen zum barrierefreien Bauen rechtsverbindlich eingeführt wurden.
Auch im Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2011 wurde explizit übernommen und aufgeführt: „Die von der UN-Behindertenrechtskonvention geforderte Inklusion, also die volle Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen, ist ein vorrangiges Ziel der neuen Landesregierung.“
Leider wird die nun aufkommende Hoffnung ein paar Seiten später wieder gedämmt, da der Zusatz „Die Umsetzung der angegebenen Maßnahmen steht unter dem Vorbehalt verfügbarer Haushaltsmittel“ alles wieder relativiert und somit a priori eine Ausstiegsklausel jedweder Forderungen in der Vertrag einbaut. Leider konnte ich keine Informationen finden, in denen ein für solche Maßnahmen eingestelltes Budget genannt ist. *siehe ergänzende Anmerkungen, die mir nun übermittelt wurden. Von daher müssen quasi alle der formulierten 228 Maßnahmen mehr oder weniger im Konjunktiv betrachtet werden.
Es erklärt mir allerdings, warum eine – für meine Begriffe – Selbstverständlichkeit wie den sog. Euro-Schlüssel in einem öffentlichen Gebäude als spezielle Maßnahme (Rubrik 8, d.Umsetzung Pkt.4) aufgeführt wird. Wenn die Landesregierung den Austausch eines Schließzylinders in einer öffentlichen Toilettentür als Einzelmaßnahme vorliegen hat, dann schrumpfen meine Erwartungen an die erhofften großen Schritte.
Einige der formulierten Maßnahmen als teilweisen Auszug
/ Zitat der oben genannten Broschüre
Zitate in kursiver Schriftart / meine Anmerkungen in gerader Schriftart
1.1 | Bewusstseinsbildung
Bewusstseinsbildung wird im Hinblick auf die UN-Behindertenrechtskonvention als gesellschaftliche Notwendigkeit wie auch als wichtige Voraussetzung für die Wirkung von staatlichen Maßnahmen begriffen. Teilhabe von Menschen mit Behinderungen kann nur erfolgen, wenn Barrieren in den Köpfen abgebaut werden. Deshalb richten sich Maßnahmen der Bewusstseinsbildung sowohl an die Bevölkerung wie auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwaltungen des Landes.
a | Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention
Artikel 8 UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet die staatlichen Akteure, Maßnahmen zu ergreifen, um in der gesamten Gesellschaft das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen sowie die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu fördern; Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken zu bekämpfen und das Bewusstsein für die Fähigkeiten und den Beitrag von Menschen mit Behinderungen zu fördern.
So wie bei vielen der Zielgruppe dieser Maßnahmen, muss auch in der Gesellschaft, Unternehmen und vor allem der öffentlichen Hand ein Umdenken stattfinden. Da bin ich absolut konform.
Während ich – als selbst körperbehinderte Person mit Bewegungs-einschränkungen – seit einigen Jahren einen starken Wandel in der Gesellschaft feststellen und erleben darf, so sehr vermisse ich diesen bei vielen öffentlichen Stellen.
Die Hilfsbereitschaft im täglichen Leben ist im Kontext eines „normalen“ und selbstverständlichen Umgangs miteinander wirklich große Schritte voran-gekommen. Diese positive Entwicklung schaukelt sich m.E. sogar dadurch hoch, dass mehr und mehr Behinderte in der Öffentlichkeit zu sehen sind, was dies im Umkehrschluss sukzessive zur Normalität macht. Das ist gelebte Inklusion – und macht auch die notwendigen Kosten für die Umbau-maßnahmen für alle sichtbar zur sinnvollen Investition.
Leider ist meine Euphorie in Hinsicht auf die behördliche Entwicklung gedämpft. Ich sehe ein, dass manches aufgrund des „Apparates“ nicht von heute auf morgen umsetzbar ist. Auch müssen Budgets eingestellt werden um Pläne umsetzen zu können. Sicherlich werden an verschiedensten Stellen sehr viele Versprechen und Erklärungen gemacht, in dieser Broschüre sogar Ziele definiert. Jedoch vermisse ich die konsequente Um- bzw. Durchsetzung - und das Budget für die Realisierung.
Das beste Beispiel hierfür ist die aktuell gültige Landesbauordnung. Diese ist wirklich ein großer und wichtiger Schritt in Richtung der barrierefreien baulichen Gestaltung. Aber warum werden diese Paragraphen in den meisten Landratsämter und Baurechtsbehörden so inkonsequent eingefordert? Ich habe beruflich fast täglich Baupläne mit Neu- oder Umbauten auf meinem Schreibtisch, deren Bauvorhaben ausnahmslos genehmigungs- oder anzeigepflichtig sind. In vielen der nicht-öffentlichen Bauvorhaben sind die Vorgaben der gesetzlich verankerten DIN kaum erkennbar. Fehlt das Bewusstsein bei den Behörden verbindliche Vorschriften auch dort anzuwenden und diese konsequent einzufordern?
Die Integration der geforderten Rettung von
Behinderten in das Brandschutz-konzept ist mit der neuen LBO gefordert. Aus meiner Erfahrung wird diese Forderung wirklich in das Konzept eingebunden und Lösungen gesucht. Eine gute Entwicklung. Es
ist wünschenswert, dass solche ämterübergreifenden Abstimmungen auch z.B. zwischen Baurechtsbehörde und Gewerbe-aufsichtsamt intensiviert würden.
Dies ist kein bloßer Wunsch meinerseits, sondern Teil der Verpflichtung wie in „Artikel 8
UN-Behindertenrechts-konvention verpflichtet die staatlichen Akteure, Maßnahmen zu ergreifen, …“ definiert.
5.3 | Arbeits- und Beschäftigungsangebote in der Behindertenhilfe
a | Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention
Trotz allen Hilfestellungen wird es nicht allen Menschen mit Behinderungen möglich sein, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnissen beschäftigt zu werden. Um das in Artikel 27 UN-Behindertenrechtskonvention garantierte gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit zu verwirklichen, müssen auch staatlich geförderte, geeignete und diskriminierungsfreie Beschäftigungsangebote in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen geschaffen, unterhalten und weiterentwickelt werden (vgl. § 136 SGB IX).
Um nicht den Eindruck zu erwecken, meiner Meinung nach müsste alles und jedes im wahrsten Wortsinne für alle möglich sein, kurzes Statement zu diesem Artikel 27:
Ja, es ist unmöglich alles so barrierefrei zu gestalten, dass für niemanden mehr Barrieren vorhanden sind. Dies ist deshalb schlicht unmöglich, da die körperlichen Einschränkungen sehr vielfältig sind. Auch konkurrieren Lösungen für die eine Personengruppe mit den Anforderungen einer anderen Gruppe; manchmal widersprechen sie sich sogar. Beispiel sind Kanten auf Wegen und Plätzen, die für sehbehinderte Langstockgeher klar und deutlich tastbar sein müssen, für Rollstuhl- und Rollatorennutzer eher gegen Null gehen sollten. Selbst wenn alle sich redlich bemühen, es werden immer Kompromisse zu suchen sein, die für die größtmögliche Anzahl von potentiellen Nutzern die selbständige Teilhabe ermöglicht.
5.4 | Arbeitsschutz
a | Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention
Artikel 8 Absatz 2 UN-Behindertenrechtskonvention schreibt vor, die Anerkennung der Fertigkeiten, Verdienste und Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen und ihres Beitrags zur Arbeitswelt und zum Arbeitsmarkt zu fördern. Artikel 9 Absatz 1 a) UN-Behindertenrechtskonvention regelt unter anderem, dass Menschen mit Behinderungen ein gleichberechtigter Zugang zu Arbeitsstätten gewährleistet werden muss. …
Quelle: Broschüre „Aktionsplan der Landesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechts-konvention in Baden-Württemberg“ Seite 127
d | Umsetzung
Im Rahmen der Aufgabenwahrnehmung der Gewerbeaufsichtsdienste, die bei den unteren Verwaltungsbehörden und den Regierungspräsidien angesiedelt sind, wird die Überwachung des Arbeitsschutzgesetzes und der Arbeitsstättenverordnung mit der dazugehörigen Arbeitsstättenregel durchgeführt.
In Fortbildungsveranstaltungen der Gewerbeaufsichtsdienste durch das Sozialministerium wird verstärkt auf die Überwachung und Einhaltung der oben genannten Gesetze hingewiesen. Auch bei Planungsanfragen zu Neubauten und Umbaumaßnahmen wird auf die Normen der Barrierefreiheit verwiesen. Bei Besichtigungen von Unternehmen werden die Gewerbeaufsichtsdienste verstärkt auf die Gestaltung der Arbeitsstätten und Arbeitsplätze hinsichtlich Inklusion hinweisen.
Hier ist die Verbindlichkeit der Umsetzung definiert. Kein wenn und aber, sondern verbindlich gefordert. Ich habe mich im Absatz „Bewussts-einsbildung“ bereits dazu ausgelassen und verweise auf diese Stellen, denn dies untermauert meine eigene Forderung nach der Umsetzung.
Auch wäre die bessere Erschließung des ersten Arbeitsmarktes nach meiner Auffassung ein großer Gewinn für alle Seiten. Die Betroffenen haben eine Aufgabe und erfahren Wertschätzung bei der Arbeit; ein nicht zu unterschätzender Punkt ein Behinderungen oder chronischen Erkrankungen. Die Unternehmen klagen über Fachkräftemangel. Kleiner Tipp: eine Behinderung schränkt in der Regel nur einen Teil der Fähigkeiten ein. Andere sind vorhanden, und im Gegenteil sogar oft besser ausgeprägt. Diese Fähigkeiten sollten Unternehmen zu ihrem Nutzen einsetzen. Und zuletzt ist der Staat und die Gesellschaft der Gewinner einer echten Inklusion; von der finanziellen Verlagerung ganz abgesehen.
7.1 | Barrierefreies Bauen
a | Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention
Mehrere Artikel der UN-Behindertenrechtskonvention zielen auf die Schaffung von Zugänglichkeit und Barrierefreiheit ab. Die Konvention fordertn - Maßnahmen mit dem Ziel, gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, zu Informations- und Kommunikationsmitteln zu gewährleisten (Art. 9 UN-BRK) n Maßnahmen, um Mindeststandards für die Zugänglichkeit zu erlassen und umzusetzen (Art. 9 UN-BRK), Maßnahmen, um behinderten Menschen eine freie Wahl des Aufenthaltsorts zu ermöglichen (Art. 19 UN-BRK) Maßnahmen, um behinderten Menschen freiwillige Erwerbsarbeit zu ermögliche bzw. um Hemmnisse zu beseitigen (Art. 27 UN-BRK),n Anerkennung des Rechts auf angemessene Wohnung und Maßnahmen, damit dieses Recht ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung verwirklicht werden kann (Art. 28 UN-BRK),n Maßnahmen, die den Zugang zu Orten kultureller Darbietungen für behinderte Menschen sicherstellen (Art. 30 UN-BRK).
b | Situationsbeschreibung
Das Bauordnungsrecht schreibt bei der Errichtung öffentlich zugänglicher Gebäude in § 39 Absatz 2 Landesbauordnung Baden-Württemberg (LBO BW) Barrierefreiheit vor. Diese Regelung umfasst bei öffentlich zugänglichen Gebäuden nicht nur die für Besucher zugänglichen Bereiche, sondern auch die von Beschäftigten genutzten Bereiche. So wird gewährleistet, dass Menschen mit Einschränkungen auch als Beschäftigte diese Gebäude nutzen können.
Für Versammlungsstätten wird diese allgemeine Anforderung in der Versammlungsstättenverordnung (VStättVO) konkretisiert. § 10 Absatz 7 VStättVO stellt Anforderungen an Besucherplätze für Rollstuhlbenutzer und Begleitpersonen, § 12 Absatz 2 VStättVO fordert rollstuhlgerechte Toiletten, § 13 VStättVO fordert barrierefreie KfZ-Stellplätze und § 42 Absatz 1 VStättVO fordert (wie auch § 27 Absatz 1 VerkaufsstättenVO) organisatorische Regelungen zur Evakuierung von Menschen mit Behinderungen.Wohnungen für alte Menschen oder Menschen mit Behinderungen sind als barrierefreie Wohnungen so herzustellen, dass sie von diesen Personen zweckentsprechend ohne fremde Hilfe genutzt werden können. Ferner müssen in Wohngebäuden mit mehr als vier Wohnungen die Wohnungen eines Geschosses barrierefrei erreichbar sein. Allen Planungen für Neu- und Umbauten, Erweiterungen sowie Sanierungen landeseigener Gebäude liegen die Regelungen der Landesbauordnung von Baden-Württemberg und die Technischen Baubestimmungen zum barrierefreien Bauen zu Grunde.
c | Ziel
Öffentlich zugängliche Gebäude sind so zu errichten, dass die Einschränkung eines Menschen ihn bei der Nutzung des Gebäudes möglichst wenig behindert. Gleiches gilt bei der Errichtung von Wohnungen, insbesondere wenn die Einschränkungen der zukünftigen Nutzer bereits bekannt sind. Bei Wohnungen soll jedoch darüber hinaus mit universeller Zielrichtung („Bauen für Alle“) ein Bestand an barrierefrei erreichbaren Wohnungen aufgebaut werden, welcher nutzerunabhängig der aufgrund der demographischen Entwicklung absehbaren Nachfrage nach solchen Wohnungen Rechnung trägt. So wird sich durch Neubauten bzw. Umbauten und Umnutzungen eine immer weitergehend barrierefreie bauliche Umwelt durchsetzen.
…
Ferner müssen in Wohngebäuden mit mehr als zwei Wohnungen die Wohnungen eines Geschosses nicht nur barrierefrei erreichbar sein, sondern in diesen Wohnungen müssen die Wohn- und Schlafräume, eine Toilette, ein Bad und die Küche oder Kochnische barrierefrei nutzbar und mit dem Rollstuhl zugänglich sein.
Der meines Erachtens zentrale Punkt:
die selbständige Teilhabe körperlich eingeschränkter Personen am Leben
Grundlage ist die aktuellen Landebauordnung. Die Chance wurde genutzt unklare Formulierungen, wir die „Erreichbarkeit der Wohnung“ würde der Forderung nach Barrierefreiheit Genüge tun, zu konkretisieren. Ich unterstelle dem Gesetzgeber, dass er dies auch in der alten Form bereits in der gleichen Form gewünscht hat.
Deshalb bin ich ein großer Freund der nun definierten „Schutzziele“ der Landebauordnung. Die relevanten Normen geben das bautechnische Ziel vor – zur Erreichung dieser Ziele sind nun viele Wege offen, was die Kreativität der Planer einerseits fordert, aber andererseits zulässt alternative Lösungen konform des Baurechts zu schaffen.
Die Aussage „Bauen für Alle“ hebt die Anforderungen des barrierefreien Bauens über den Malus der körperlichen Einschränkungen auf das Niveau des Normalen. Wenn wir ehrlich sind, genießen auch die Menschen ohne körperliche Einschränkungen das Vorhandensein von automatischen Türen, wenn sie am Bahnhof mit Gepäck versuchen den richtigen Bahnsteig zu erreichen, oder den Fahrstuhl nutzen um den Wocheneinkauf an Lebensmitteln oder den Kinderwagen in den dritten Stock zu befördern. Nutzen für alle.
Die Broschüre stellt auch die Anforderungen und Ziele „7.4 | Verkehr und Öffentlicher Raum“ dar. Dies sind Bauvorhaben der öffentlichen Hand und werden weitestgehend konform der Vorschriften erstellt.
In den Kapiteln „8.1 | Kulturelles Leben“ sowie „8.3 | Tourismus und Umwelt“ wird der Artikel 30 der UN-Behindertenrechtskonvention angeführt.
Gemäß Artikel 30 Absatz 1 der UN-Behindertenrechtkonvention ist es Aufgabe des Staates, das Recht von Menschen mit Behinderungen anzuerkennen, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzunehmen. Dies beinhaltet etwa den gleichberechtigten Zugang zu kulturellen Aktivitäten und Orten wie Theatervorstellungen, Museen, Kinos und Bibliotheken. Wichtige Grundlage für die Teilhabe am kulturellen Leben ist dabei die Vermittlung von kultureller Bildung in der Schule.
Dieser fordert auch die „Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport“…
Meine Frau und ich gehen selbst gerne und recht oft auf Konzerte und Theater-aufführungen. Hier gibt es sehr viele Einrichtungen aus einer Zeit, an dem sich noch keiner über Barrierefreiheit Gedanke machte. Ich könnte nun das historische wagner´sche Schauspielhaus in Bayreuth aufführen. Kann aber auch in Ulm bleiben und mich an einen Besuch im (wie der Name schon sagt) „Alten Theater“ erinnern. Ich vertrete die Meinung, dass nicht alles und jedes zu 100% barrierefrei ausgebaut werden kann und muss. Mag vielleicht überraschen, ist aber so. Deshalb suche ich gerne nach alternativen Lösungen, die Nutzung für z.B. bewegungseingeschränkte Personen trotzdem zu ermöglichen - ganz im Sinne der LBO und den Schutzzielen.
Stellen wir uns eine Rollifahrerin vor, die ein Konzert im alten Theater erleben möchte. Wenn man den Weg vom Parkplatz bis zum Gebäude geschafft hat (es ist Sommer und kein Schnee verhindert die Rollifahrt) steht sie von einer Freitreppe mit ca. 20 Stufen. Wären diese geschafft und sie ist im Eingang des Gebäudes, dann stehen x Stufen nach unten zur Toilette oder y Stufen nach oben zur Kasse zur Auswahl. Hat sie den Kassenraum erreicht, sind nochmal –ich glaube- drei Stufen zu überwinden um in den Zuschauerraum zu gelangen. Schlicht unmöglich dies „in der allgemein üblichen Art und Weise…ohne fremde Hilfe“ (Zitat: Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (BGG:2007-12) BGG §4) zu meistern.
Soweit – so normal. Es bestand tatsächlich (schließlich ist es eine wahre und selbst erlebte Begebenheit aus dem vergangenen Jahr) kein Grund zur Sorge, denn es finden sich –wie immer- hilfsbereite Menschen, die kurzentschlossen anpacken und die notwendige Logistik zur „vertikalen Erschließung“ vollbringen. Ein Beispiel wie weit „die Gesellschaft“ im Positiven bereits vorangekommen ist.
Leider ist es wohl aus Haftungsgründen den Veranstaltern oft untersagt, solche Assistenz bereit zu stellen. Dies obwohl diese Möglichkeit sogar in der Landesbauordnung explizit als alternative „organisatorische Maßnahmen“ beschrieben ist. Wann beendet der Gesetzgeber hier die Unsicherheit und schafft den helfenden Personen endlich Rechtssicherheit, dass solche Assistenzleistungen staatlich versichert sind? Hilfeleistung bei einem Unglück oder Unfall ist abgesichert. Im Gegenteil, da kann man bestraft werden, sofern man die notwendige und zumutbare Hilfeleistung unterlässt! Warum nicht bei solchen Hilfen?
Die Idee nur noch entsprechend barrierefreie Veranstaltungsräume zu besuchen, ist weder für mich persönlich, noch mit den Forderungen der UN-Konventionen vereinbar. Geht doch jeder Leser die einschlägigen Veranstaltungsorte ins Ulm unter dieser Sichtweise durch: die Erkenntnis wird erschreckend sein, wie reduziert das kulturelle Angebot mit einem Schlag sein würde.
Maßnahme 161
Kontinuierliche Überwachung der Einhaltung der Vorschriften zum barriere-freien Bauen durch die Bauverwaltungsbehörden (Ministerium für Verkehr)
Hier sollte dringend und intensiv das Verständnis der Beamten und Angestellten in den entsprechenden Ämtern geschult werden. Zur Erinnerung nochmal ein Zitat der Landesregierung gleich unter 1.1 „Bewusstseinsbildung“ der Broschüre:
„Deshalb richten sich Maßnahmen der Bewusstseinsbildung sowohl an die Bevölkerung wie auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwaltungen des Landes.“
9.1 | Bürgerschaftliches Engagement und Bürgerbeteiligung
In diesem Punkt ist das Papier wirklich auf einem guten Weg. Es darf nicht sein, dass Entscheidungen gefällt werden, OHNE die davon Betroffenen in diesen Prozess einzubinden. Genauso ist dies in 9.2 definiert. Dies ist umso wichtiger, da manche Entscheidungen für die eine Gruppe optimal wäre, eine andere Gruppe jedoch zusätzlich behindern würde.
a | Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention
Die Vertragsstaaten haben sich in Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtig mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können sowie aktiv ein Umfeld zu fördern, dass es Menschen mit Behinderungen ermöglicht, gleichberechtigt und diskriminierungsfrei mit anderen an der Gestaltung von öffentlichen Angelegenheiten mitzuwirken und sie hierbei zu begünstigen.
c | Ziel
Ziel ist die zivilgesellschaftliche Teilhabe aller Menschen mit Behinderungen. Diese müssen sich genauso engagieren können wie Menschen ohne Behinderungen. Damit geht zwingend einher, dass sie sich auch einbringen, die Gesellschaft mitgestalten und mitbestimmen können. Insbesondere die „Engagementstrategie Baden-Württemberg“ hat sich dies zum Ziel gesetzt …
d | Umsetzung
Landesprogramm „Mittendrin“: Dieses Förderprogramm wurde Anfang des Jahres 2012 ins Leben gerufen, um insbesondere benachteiligten Gruppen den Zugang zum Engagement zu erleichtern und neue Freiwillige aus diesen Gruppen zu gewinnen. …
e | Maßnahmen-Katalog
206
Landesprogramm „Mittendrin“ läuft weiter, jährlich werden rund 45 Projekte bewilligt; Projekte von und für Menschen mit
Behinderungen werden dabei besonders berücksichtigt
…
210
Förderprogramm „Gemeinsam sind wir bunt“:
1. Förderung Modellprojekt der persönlichen Begleitung von Menschen mit Behinderungen durch engagierte Menschen aus dem Sozialraum (als Paten, Begleiter oder Lotsen).
2. Modellhafte Erprobung, wie mit Peer-Strukturen und „Peer-Counseling“ die Erhöhung der Selbstwirksamkeit erreicht werden und die Teilhabe am Leben im Sozialraum selbst befördert werden kann.
9.2 | Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen
c | Ziel
Menschen mit Behinderungen sollen ihre Interessen selbst vertreten können. Die Vertretung eigener Interessen muss auf allen Ebenen selbstverständlich sein. Inklusion bedeutet in dieser Hinsicht, dass Menschen mit Behinderungen ihre Lebensbedingungen in allen Bereichen als „Experten in eigener Sache“ mitgestalten
Resümee:
Ja, das Papier liest sich gut. Meine persönliche Erfahrung zeigt mir aber, dass in manchen Gremien die Personen mit körperlichen Einschränkungen sehr unterrepräsentiert sind. Das hat zur Folge, dass bei Entscheidungen die Delegierten von Ämtern u.ä. quasi frei nach Gusto entscheiden können, da sie alleine bereits über die notwendige Stimmenmehrheit verfügen. Es kann danach politisch korrekt sogar noch behauptet werden, dass die „Behinderten“ bei der Entscheidung mitgewirkt haben.
Auf der anderen Seite kann dieser Vorwurf nicht alleine so dastehen. Die Mitwirkung der öffentlichen Hand ist zwingend notwendig – somit ist hier eine bestimmte Personenzahl vertreten. Es bleibt also nur die Möglichkeit die Anzahl der ehrenamtlichen Personen mit eigenen Einschränkungen zu erhöhen. Es muss Aufgabe sein entsprechend motivierte und qualifizierte Personen aus unterschiedlichen Bereichen zu finden und nachhaltig zu motivieren.
Mein persönliches Resümee aus der Beschäftigung mit diesem Aktionsplan ist der Eindruck, dass hier eine Arbeitsgruppe der Landesregierung wirklich bemüht war. Es wird eine große Anzahl an Maßnahmen aufgelistet, jedoch fehlt mir an vielen Stellen die konkrete Definition zur Umsetzung sowie ein verbindlicher Zeitrahmen. Aber wie auch ganz ohne Budget? Auf der anderen Seite ist mit der neuen Landesbauordnung bereits ein großer Schritt gegangen. In den damit nun rechtsverbindlichen Normen sind klare Forderungen zur Umsetzung festgelegt. Die Definition der Schutzziele gibt Spielraum die individuell passende Lösung zu finden, womit es praktisch keine Ausnahmen von diesen Schutzzielen mehr geben darf.
Ich hoffe, dass die Bemühungen zur „Bewusstseinsbildung“ zeitnah und nachhaltig bei allen "staatlichen Akteuren" ankommen und durchgängig gelebt werden. Dazu sind aber auch Planer und Architekten, Rechtsanwälte und Gerichte sowie Investoren und Bauträger genauso aufgefordert.
Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention und Umsetzung in nationale vorhandenen Gesetze, Verordnungen und Normen hat stattgefunden. Diese müssen nun ernsthaft eingefordert werden. Die Grundlagen sind geschaffen – nun sind die Menschen gefordert dies in ihren Köpfen ankommen zu lassen und mit Leben zu füllen.
Ergänzung vom 04.12.2015
Freundlicher Weise wurde mir folgende Information auf meine Ausführungen von einer Dame, die an der Ausarbeitung des Landes-Aktionsplan mitgewirkt hat, erklärend zusendet. In kursiver Schrift die ergänzenden Erklärungen, die ich dankend hier einstelle und mich über den Informationsaustausch sehr freue:
Landesaktionsplan BW:
a.) Das Besondere an dem novellierten L-BGG von Baden-Württemberg ist:
bundesweit wurde zum 1. Mal in einem Bundesland bei der Umsetzung der UN- Behindertenrechtskonvention in Baden-Württemberg Vorschläge zum novellierten L-BGG unter dem Vorsitz des
Landes-Behindertenbeauftragten erarbeitet in vier Regionalkonferenzen von Betroffenen und deren Angehörigen sowie Vertretern aller in der Hilfe für Menschen mit Behinderungen maßgeblichen Akteure.
Dieser Bericht enthält Handlungsfelder, Ziele und Maßnahmen für die Bereiche Bildung und Erziehung, Gesundheit, Arbeit, Wohnen, Barrierefreiheit, Kultur/Freizeit/Sport und Persönlichkeitsrechte und
bietet der Landesregierung eine inhaltliche Orientierung bei der Erstellung des Aktionsplans zur Umsetzung der UN-BRK.
b.) Dieser Aktionsplan gilt als Grundlage für die Arbeit der verschiedenen Landesministerien. Diese müssen damit in ihren Ressort-Planungen die Finanzen erarbeiten für den Landeshaushalt. Finanzbeträge stehen bewußt nicht im Aktionsplan, da diese zumeist Projekt bezogen, zeitlich und betraglich begrenzt sind!
z.B. sind für die Herstellung der barrierefreien Bushaltestellen (Kasslerbord) von der Landesregierung BW 5 Mio € ausgeschrieben, damit Kommunen für ihre zu erstellenden barrierefreien Bushaltestellen Gelder beantragen können. Beim Landesinklusionstag am 26.10.15 waren davon bereits 3,6 Mio € vergeben gewesen, wie Ministerin Altpeter berichtete.
Auch in dem Aktionsplan der Bundesregierung ( der derzeit nouvelliert - aktualisiert wird) stehen keine Finanzierungsbeträge!!!
.... sowie auch bei den verschiedenen anderen Bundesländern, die einen Aktionsplan bereits haben, und bei der Deutschen Rentenversicherung, Unfallversicherung, verschiedenen Großbetrieben usw.
Ralph Ziemann
Sachverständiger für barrierefreies Planen und Bauen
12 / 2015